Megatrend Achtsamkeit – Beachten Sie Grenzen und Gefahren?

Vor einigen Monaten schaute ich „Die Stille Revolution” im Kino. Mich hat der Film berührt, aber aufgestanden bin ich nicht. Im Abspann gaben einige Zuschauer Standing Ovations, teilweise mit Tränen in den Augen. Menschen sehnen sich nach dem „Wandel in der Arbeitswelt”. Deswegen erlebt Achtsamkeit einen Boom. Inwiefern das hilft, ist hier die Frage. 

Neu ist das Thema Achtsamkeit nicht, auch nicht in Business-Kreisen. Mittlerweile trauen sich sogar Top-Führungskräfte, ohne Scham darüber zu sprechen. Achtsamkeit bringt was. Die Hirnforschung liefert „Beweise”, MBSR ist mehrfach evaluiert und Pater Anselm Grün berät erfolgreiche Unternehmer.

Warum der Hype um Achtsamkeit?

Ich formuliere es mal so: In der VUCA-Welt wird Aufmerksamkeit zur knappen Ressource. Sie merken das, wenn Sie ernsthaft in der Digitalisierung, im Kulturwandel oder im Coaching unterwegs sind – an Ihren Kollegen, an Ihren Klienten, und am eigenen Erleben. 

Als Sozialwissenschaftler und Corporate Trainer wundert mich das nicht. Es ist kein Zufall, dass digitale Technologien, Achtsamkeit und das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung seit den 1980er-Jahren rasant an Fahrt aufnehmen: Die Welt wird komplexer. Das fordert unser Bewusstsein. Die Folgen sind Stress und die Suche nach Orientierung. Um sich zu orientieren, sollte man seinen Standort bestimmen. Dabei kann Achtsamkeit helfen; muss aber nicht. 

Achtsamkeit ist populär. Je populärer ein Thema wird, desto mehr mischen mit. Die Achtsamkeitswelle ist vielversprechend, viele wollen auf ihr reiten: mit Kursen, Coachings, Artikeln und Apps. Daran ist nichts falsch, aber es folgen Probleme: Das Thema verschwimmt, Begriffe werden unscharf, Forschungen verallgemeinert, Anwendungen beliebig vermischt und Menschen zunehmend verwirrt. Das Thema Achtsamkeit wird überspült. Es wäre schade, wenn es im Sand verläuft. 

In diesem Artikel erhalten Sie einen kritischen Blick auf das Thema Achtsamkeit – mit dem Ziel der Klärung und dem Zweck der Orientierung. Sie erfahren, was Achtsamkeit bedeuten kann und lernen die Grenzen und Risiken unreflektierter Achtsamkeitspraxis. Damit können Sie unseriöse Angebote filtern und bessere Entscheidungen treffen. 

Der Versuch einer begrifflichen Klärung

Achtsamkeit hat mehrere Bedeutungen. Die meisten Menschen verbinden damit eine mehr oder weniger systematische Zusammenstellung von Praktiken, zum Beispiel Meditation, Yoga, oder Wahrnehmungsübungen. Manche meinen damit eine Fähigkeit, die eigene Aufmerksamkeit zu lenken. Teilweise wird mit Achtsamkeit auch eine mentale Ausrichtung verstanden. Und es gibt die Achtsamkeitslehre; eine Philosophie, die ihren Ursprung im Theravada-Buddhismus hat. 

In meiner Minimaldefinition bezeichnet Achtsamkeit die Stabilität von Aufmerksamkeit. Das ist eine pragmatische Auffassung. Zum einen ist sie theoretisch anschlussfähig, etwa an die buddhistische Tradition und die neuere flow-Forschung. Zum anderen habe ich damit gute Erfahrungen in der Coaching- und Trainingspraxis. 

Selbstverständlich lassen sich alle fünf Bedeutungen verknüpfen. Dann hätte man einen sehr vollständigen Begriff, der vielen jedoch zu anstrengend ist. In diesem Artikel konzentriere ich mich auf die erste Bedeutung. Es geht um Achtsamkeit als Übungssystem; als „Tool”, das man vermitteln und verkaufen kann. 

Vorsicht mit “wissenschaftlichen Beweisen”

„Die positive Wirkung von Achtsamkeit ist durch eine Vielzahl von Studien bewiesen”. Bei Chefs mit Scheuklappen zieht ein solches Argument — bei Ihnen hoffentlich nicht (mehr).

Wenn man sich die Achtsamkeitsforschung genauer ansieht, ergibt sich ein nüchternes Bild: Nur ein Prozent der Studien erfüllt die höchsten Standards der Forschung, schreibt Daniel Goleman, der führende Experte auf dem Gebiet der emotionalen Intelligenz. Die nachweisliche Wirkung von Achtsamkeit basiert auf Studien, die zum Großteil konzeptuelle und methodologische Schwächen aufweisen. 

So sieht es auch das internationale Forscherteam um Nicholas Van Dam: In einem großen Review verzeichnen sie eine Reihe von Defiziten und Herausforderungen der Achtsamkeitsforschung. Quantität ist nicht gleich Qualität – auch nicht beim Thema Achtsamkeit. Wer mit der „Vielzahl der Studien” argumentiert, sollte also vorsichtig sein. 

Achtsamkeit ist kein Allheilmittel!

Doch die Vorsicht reicht nicht weit, wenn Dollarzeichen blind machen. Zahlreiche Mindfulness-Angebote werden in Workshops, Apps und Online-Kursen als Allheilmittel verkauft: „Achtsamkeit repariert das Gehirn, reduziert Stress und steigert Performance”. Wer darauf reinfällt, darf mit Risiken und Nebenwirkungen rechnen. So einfach ist es nicht. 

Achtsamkeitspraxis ersetzt bei geläufigen psychischen Beschwerden keine herkömmliche Behandlung. Das geht aus einer Metaanalyse von schwedischen Wissenschaftlern hervor. Im akuten Burnout ist von Meditation abzuraten. Unter Umständen hat der unvorsichtige Einsatz von Achtsamkeit sogar Nachteile. Eine Studie aus London liefert Hinweise, dass Ängste und Depressionen durch Meditation eher verschärft als gelindert werden. 

Macht Achtsamkeit Sie zu einem besseren Menschen? Nicht unbedingt: Laut Wissenschaftlern der Universität Kassel können bestimmte Achtsamkeitsübungen ein schlechtes Gewissen abdämpfen. Was zunächst attraktiv klingt, spricht gegen jede moralische Intuition. Denn während sich jemand durch Ihr Verhalten verletzt fühlt, geht es Ihnen durch Achtsamkeit besser. Wer hätte daran Interesse? 

Ideologische Rutschgefahr

An diesem Punkt sehe ich die größte Gefahr einer Popularisierung von Achtsamkeit. Es ist das, was der Resonanzforscher Hartmut Rosa als „Universalistische Verengung” bezeichnet. Sie zeigt sich meist in leisen Parolen: „Achte nur auf dich. Bleib bei dir. Sei gelassen. Wenn du im richtigen Mindset bist, ist das Leben vollkommen”. Was daraufhin nicht selten passiert, ist ein Rückzug des „achtsamen Individuums” in sich selbst – und im schlimmsten Fall: in eine naive Egozentrik. Damit zerfällt jedes Team, jedes Unternehmen, und jede Gesellschaft.

Darüber mache ich mir Sorgen. In meinem Bekanntenkreis erlebe ich Menschen, teilweise Achtsamkeitslehrer, die sich fast radikal in ihre Subjektivität zurückziehen. Es ist traurig. Manche gehen sogar so weit, dass sie die objektive Wirkungsforschung durch subjektive Wahrheiten ersetzen wollen. 

Hier zeigt sich eine Schattenseite der Postmoderne: „Es gibt keine Wahrheit, außer meine (und vielleicht noch derjenigen, die meine Wahrheit bestätigen)”. Können Sie sich vorstellen, wie schwierig es ist, mit solchen Menschen kontroverse Gespräche zu führen – mit dem Ziel: gemeinsam bessere Lösungen zu finden. 

Der „Megatrend Achtsamkeit”, wie ihn Zukunftsforscher Matthias Horx prophezeit, kann schnell zur Ideologie werden. Wenn man eine Idee überhöht, ohne sie mit anderen Wirklichkeiten abzugleichen, dann ist der erste Schritt getan. 

Mind full, body empty? 

Meine Kritik geht auch dahin, dass viele Mindfulness-Ansätze die Menschen in ihrem Geist belassen. Vielleicht sollte man „Mindfulness” weniger wörtlich nehmen und mehr das aktive Handeln stärken, im Sinne eines aufgeklärten Embodiment. Das ist auch die Kritik von Dr. Ginny Whitelaw, ehemals NASA-Managerin, jetzt Zen-Lehrerin und ebenfalls Coach für Führungskräfte und Teams. 

Nicht zuletzt habe ich als Sozialwissenschaftler meine Schwierigkeiten damit, wenn die Achtsamkeit von ihren Ursprüngen entkoppelt wird. Jede große Weisheitstradition hat ihre Formen achtsamer Praxis hervorgebracht. Achtsamkeit losgelöst von Religion und Spiritualität? So lässt sie sich in einer säkularen Welt besser verkaufen. 

Achtsamkeit: nicht nur worauf, sondern wofür

Meine Kritik mag der Popularität der Achtsamkeit entgegenstehen. Genau deswegen findet sie hier ihren Platz. Ich bin kein Achtsamkeits-Gegner. Ich meditiere seit 2011. Aber ich bin auch Business-Trainer und flow-Forscher mit einem feinen Gespür für „Bullshit”.

Ich befürworte Achtsamkeit, sofern die Übungen in ein vollständigeres Bild eingebettet werden. In meiner Auffassung geht es um die Entwicklung von Bewusstsein durch die Lenkung von Aufmerksamkeit. Ich glaube, dagegen hätte weder Buddha noch Ihr Chef etwas einzuwenden. 

Die Frage ist: Wofür Entwicklung? – Um Geld zu verdienen? Um bei sich zu bleiben? Um sich zugehörig zu fühlen? Um sich selbst zu optimieren? Um sich selbst zu finden? …

Lassen Sie uns darüber gerne sprechen.


Simon Sirch