Als ich flow zum ersten Mal begriffen habe

Es gibt sie, nicht wahr? – Diese Momente, wenn es schlagartig „Klick“ macht. Wir alle kennen sie aus unserer Erfahrung, aber leider kommen sie viel zu selten. Was solchen Aha-Erlebnissen auf die Sprünge hilft, sind die eigene Neugier, inspirierende Menschen und vor allem das aktive Tun. So kam es zum Erstkontakt zwischen mir und dem flow-Begriff. 

Im Hörsaal hing wie so oft eine Duftmischung aus Schweiß und Duschgel. Kein Wunder, bei vierzig Sportstudenten in einem Raum ohne Fenster. Mein Platz war wie gewohnt hinten rechts, nahe der Tür. Doch diesmal dachte ich nicht an Flucht. Der Professor beschrieb eine Abfolge: beginnend bei enger Konzentration, die in weite Aufmerksamkeit übergeht und schließlich im flow mündet.

"Völliges Aufgehen in dem, was du tust". Du kennst das, dachte ich mir. 

Zwei Tage später stehe ich auf dem Starthügel und blicke über eine Reihe von selbstgebauten Lehmschanzen. Meinen rechten Fuß stelle ich – das gehört zu meinem Ritual – zuerst aufs Pedal. Einatmen, angestrengte Konzentration, ausatmen. Losrollen. Erst ein Zwei-Meter-Hopser in die steile Landung; die Schwerkraft beschleunigt in die Mulde. 

Drei Sekunden Ewigkeit

Der zweite Absprung schießt mich in Richtung Himmel – Drei Sekunden Schwerelosigkeit. Eins. Zwei. Butterweiches Landen, weite Aufmerksamkeit, dritter Absprung und „wuuusch” – es wird still. Nur die Räder surren leise in der Luft. Wind streichelt über meine Wangen…eins. Mein Griff entspannt sich. Leichter Kontakt zum Lenker reicht aus. Mühelos haftet das Bike an mir. Wir sind eine Einheit. Schweben… Vogelgezwitscher… zwei. Der Jubel eines Freundes erreicht mein Ohr. Mein Herz geht auf. Da ist sie wieder, die Erde… drei. 

Außerhalb der Zeit oder ganz in der Zeit? 

Im flow verliert man das Zeitgefühl, sagen manche. Andere meinen, im flow vergesse man nicht die Zeit, sondern sei ganz in der Zeit. Vergangenheit und Zukunft verdichten sich in der Gegenwart. Oder umgekehrt: Die Gegenwart dehnt sich aus, umgreift Vorher und Nachher im jetzigen Moment. Welches Wort beschreibt flow besser: Auszeit oder Inzeit? 

Selbst geschaufelte Spielräume –
draußen wie drinnen

Mit Mitte Zwanzig gab es für mich keinen anderen Ort, an dem ich mehr in der Zeit lebte als auf unserer BMX-Bahn. Das Gelände war Treffpunkt, Kunstwerk und Spielplatz zugleich. Es entstand über mehrere Jahre schweißtreibender Arbeit. „No dig, no ride“, war unser Leitspruch. Nur wenn man die Strecke vorher mit Schaufel und Besen pflegt, fühlt sich die Fahrt rund an. Das kleinste Schlagloch kann dich aus dem Rhythmus bringen – beziehungsweise: aus dem flow. 

Zwei Psychologen halfen beim Aufwachen

Die Vorlesung von Professor Hartmut Gabler weckte etwas in mir auf. 2004 war die Inflationsrate des Wortes „flow“ in den Medien noch nicht so hoch wie heute. Ich hatte den Ausdruck schon einmal gehört, jedoch nicht in dieser Bedeutung: flow als Bewusstseinszustand, als „konzentrierte Handlungsfähigkeit“. Professor Gablers Sätze schubsten mich aus der Komfortzone. Sein nächster Impuls kam drei Jahre später, nachdem er meine Diplomarbeit gelesen hatte: „Können Sie sich vorstellen zu promovieren?" 

Der erste Absprung schießt mich nach oben. Drei Sekunden Schwerelosigkeit. Foto © Thomas Kaiser

Untertitel: Jenseits von Angst und Langeweile 

Kurz nach dem Erstkontakt mit dem flow-Begriff im Hörsaal kaufte ich mir ein Buch. Ich wollte unbedingt mehr wissen – und vor allem in die Praxis umsetzen. Denn schließlich war ich Sportstudent und Sport ist Praxis und nicht nur Theorie. „Das flow-Erlebnis” – so hieß das Buch – „Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen“. Der Titel klang spannend. Ebenso spannend klingt der Name des Autors, wenn man versucht, ihn auszusprechen: Mihaly Csikszentmihalyi stammt aus Ungarn, ist emeritierter Professor für Psychologie in Chicago und gilt als der Pate der flow-Forschung. 

Wie ein Wahnsinniger verschlang ich die ersten Seiten. Endlich bekam ich Erklärungen für das, was mich faszinierte! Warum dachte ich Tag und Nacht daran, über Lehmhügel zu fliegen? – darauf gab das Buch Antworten. Das Mountainbiken war damals meine vorrangige „flow-Aktivität“. 

Mein erster Frust war nur der Anfang…

Ich las Seite für Seite. Und Seite für Seite wich meine Euphorie einer dumpfen Enttäuschung. Vieles von dem, was Csikszentmihalyi schrieb, schien mir übertrieben utopisch. Außerdem vermisste ich die praktischen Tipps. Bei Seite 82 klappte ich das Buch zu. Zwischen flow und Schach konnte ich damals keinen Zusammenhang herstellen – beim besten Willen nicht! Erstens war das Schachspiel kein Sport. Zweitens hatte ich dabei zu oft gegen meinen Bruder verloren. 

Geschichten geben Anregungen,
aber keine Anleitung.

Obwohl ich das Buch zur Seite legte, ging meine flow-Geschichte weiter. Die Fortsetzung erzähle ich in Vorträgen und Workshops – allerdings meist in Kurzform. Denn der Schwerpunkt meiner Veranstaltungen liegt woanders: Zum einen nämlich in einer Aufklärung über das Thema flow, die viele Menschen ansprechen soll. Zum anderen stelle ich den Fokus auf die Umsetzung in die Praxis. Mit klaren Prinzipen und einfachen Techniken zeigt flow in concept Wege auf, um in den flow zu kommen. 

Der Weg zu mehr flow ist dreispurig.

Leider verschaffte mir ein Buch über das flow-Erlebnis nur wenig Zugang zum Thema. Csikszentmihalyi erzählt schöne Geschichten, aber er schreibt mir zu diffus und praxisfern. Vielleicht ging die Übersetzung seiner Worte ins Deutsche zu Lasten ihrer Klarheit und Konkretheit. Seine Bücher sind ursprünglich in englischer Sprache. Deshalb lese ich mittlerweile immer die Originaltexte zum Abgleich. 

Am Anfang ein kurzer Hopser, bis die Schwerkraft wieder greift. Foto © Thomas Kaiser

Ein erstes Date garantiert noch keine feste Beziehung.

Bloße Worte brachten mein flow-Erleben nicht voran. Das durfte ich kurze Zeit später in einem Aha-Moment erkennen. Was der „Beziehung zwischen mir und meinem flow“ stattdessen geholfen hätte, mache ich heute an drei Punkten fest:

  • Mehr flow braucht den Dialog mit Menschen, die mehr flow verwirklichen wollen.

  • Mehr flow braucht ein fundiertes Modell, wie zum Beispiel das flow4x4.

  • Mehr flow braucht flow-freundliche Techniken zur Umsetzung in den Alltag.

Wer flow-Erlebnisse finden will, dem empfehle ich, diesen drei Spuren zu folgen.

flow-Geschichten neu erzählen… und erleben.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich flow begriffen hätte. Im Rückblick auf meine flow-Geschichte würde ich antworten: Ja, immer wieder aufs Neue. Mit Blick auf die Zukunft wird es hoffentlich noch viele weitere Aha-Momente zum flow-Thema geben. Deswegen steht das Buch nach wie vor in Griffweite neben meinem Schreibtisch.

Zur Erinnerung, dass es das Erlebnis nicht ersetzen kann. 

Simon Sirch